Der geheimnisvolle Mr. Quin

von Reinhard Buss

 

Wir schätzen alle Agatha Christie als eine der berühmtesten Kriminalschriftstellerinnen des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie hat nicht nur den weltberühmten belgischen Detektiv Hercule Poirot und die schrullige Miss Jane Marple erschaffen, die in mehr als vierzig Romanen und in über siebzig Erzählungen Kriminalfälle lösen und Mörder enttarnen, sondern auch eine geheimnisvolle Figur kreiert, die immer dann auftaucht, wenn ein Verbrechen noch nicht vollständig aufgeklärt wurde: Mr. Harley Quin, eine Person, die aus dem Nichts aufzutauchen scheint.

 

Dieser Unbekannte ist weder ein Beamter von Scotland Yard, noch ein Privatdetektiv; er benutzt weder die komplexe Logik eines Sherlock Holmes noch arbeitet er auf gewalttätige Weise mit Waffen und Revolvern wie die amerikanischen „tough guys“ der Dreissiger Jahre, um einen Mordfall zu lösen: Seine Methode besteht darin, die richtige Perspektive über ein Geschehen zu erlangen, so dass es sogar möglich wird, Verbrechen aufzuklären, die schon vor sehr langer Zeit begangen wurden. In „The Coming of Mr. Quin“ rettet er das Leben von Eleanor Portal, die beabsichtigt, sich umzubringen, da sie verdächtigt wird, ihren Ehemann umgebracht zu haben und niemand an ihre Unschuld glaubt.

 

Ein weiteres Geheimnis umgibt diese außergewöhnliche Figur, die in einer Serie von zwölf Erzählungen unter dem Titel „The Mysterios Mr Quin“ erscheint. Welche literararische Funktion erfüllt eigentlich Mr. Quin, der mit seinem Gehilfen Mr. Satterthwaite - scheinbar zufällig -  an Orten des Verbrechens auftaucht? Ein kurzer Blick in die Literaturgeschichte kann vielleicht ein wenig dazu beitragen, das Rätsel zu lösen.

 

Mr Quin ist kein Detektiv im herkömmlichen Sinn, er betritt die Szene, ohne dass ihm irgend jemand der beteiligten Personen einen Auftrag dazu gegeben hätte, und er erhält auch kein Geld für seine Dienste. Schließlich streitet er es sogar ab, die besonderen Fähigkeiten eines Privatdetektivs zu besitzen; aus seiner Sicht gebührt allein seinem Freund Mr Satterthwaite das Verdienst, die Kriminalfälle gelöst zu haben, indem er die jeweils richtige Perspektive über den - oft lange zurückliegenden Fall - entwickelt hat.

 

Der erste Hinweis, den ein aufmerksamer Leser entdecken kann, ist der merkwürdige Name der Hauptfigur: Harley Quin. Sowohl sein Vor- als auch sein Nachname lenken die Aufmerksamkeit  auf einen berühmten Vorfahren, den Harlekin der Commedia dell´ arte. Diese Form der Komödie  entwickelte sich im Italien des sechzehnten Jahrhunderts und sollte für die nächsten zweihundert Jahre die europäische Komödie prägen. Selbst das elisabethanische Drama und Stücke von Shakespeare weisen Elemente der „Commedia“ auf. In dem meist festgelegten Plot konnten die Schauspieler ihre humorvollen Rollen mit eigenen Dialogen selbst ausgestalten.

 

Wie aber passt nun Mr Quin in diese historische Komödie? Nicht nur sein verräterischer Name,  sondern auch weitere Details in seiner Charakterisierung geben Aufschluss über seine eigentliche Funktion. Trotz dieser wenigen Anzeichen über seine wahre Identität sind sich sowohl Mr. Satterthwaite als auch der Leser oft im Unklaren über die eigenartige Rolle des Protagonisten. Als er in der ersten Erzählung die Bühne betritt, kleiden ihn die sich durch das Türfenster  brechenden Lichtstrahlen in alle Farben des Regenbogens, und in „The Sign in the Sky“ verwandelt ein buntes Fenster seine Kleidung in die Farben eines Narrengewandes. Der entscheidende Hinweis dafür, dass Mr. Quin schliesslich selbst das Symbol für den Harlekin ist, ergibt sich jedoch in der letzten Episode, „Harlequin´s Lane“, als Mr Quin die Rolle eines Tänzers, der einen Harlekin darstellt, einnimmt.   

 

Doch ist seine literarische Hauptfunktion immer noch nicht vollständig geklärt. Warum sollte ein Harlekin denn ein Detektiv werden? Dass es sich bei dieser Idee nicht um einen Zufall handeln kann, macht ein Blick in die Literaturgeschichte - vierhundert Jahre zurück - wieder deutlich: Kein geringerer als William Shakespeare ersetzte den antiken Chor durch die Figur des Narren. Obwohl zwar ein gewisser Unterschied zwischen einem Narren und einem Harlekin in der Literaturwissenschaft besteht, gehören dennoch beide Figuren zu den „komischen Personen“, deren Aufgaben sich im Lauf der Literaturgeschichte wandelten.

 

Die Funktionen des Chores im klassischen griechischen Drama vor mehr als zweitausend Jahren bestanden darin, den Plot eines Stückes zu untersuchen, zu interpretieren, zu kritisieren und voranzubringen. Das bedeutet, dass der Chor sogar indirekt in die Handlung eingreift, wenn aufgrund seiner Aussagen eine Figur Erkenntnisse über seine Lage gewinnt und zu handeln beginnt.

 

In „King Lear“ von William Shakespeare z.B. hat nun der auftretende Narr diese Funktionen des Chores übernommen; er ist in Wirklichkeit gar kein Narr, sondern eine sehr weise Person, die das närrische Verhalten des Königs Lear kritisiert, der sein Königreich seinen undankbaren Töchtern überlassen hat.

 

Mr. Quin besitzt nun allerdings neben den besonderen Eigenschaften, die den antiken Chor auszeichnen, auch Qualitäten, die auf eine „andere Welt“ hindeuten. In „The Shadow on the Glass“ z.B. wird der Mörder aufgrund einer genauen Untersuchung des Falles, die Jahre später vorgenommen wird, aufgespürt. Nur eine Persönlichkeit wie Mr. Quin ist anscheinend in der Lage, durch bestimmte Fragen und Assoziationen den Hauptpersonen eines Dramas, das schon lange zurückliegt, die richtige Perspektive über die zugrunde liegenden Fakten aufzuzeigen, so dass am Ende die Wahrheit zu erkennen ist. In „The Bird with the Broken Wing“ schließlich stellt Mr. Quin seine eigenen Fähigkeiten in Frage: „Ist der Tod denn das schlimmste Unheil, das jemandem widerfahren kann?“ fragt er seinen Freund.

 

Obwohl Mr. Quin in jeder der zwölf Geschichten den Handlungsverlauf beeinflusst und Menschen davor bewahrt, Opfer eines Verbrechens oder ihrer eigenen Zweifel zu werden, gibt es letzendlich keinen zwingenden Beweis dafür, dass aufgrund seiner Hilfe die Verbrechen aufgeklärt werden konnten. Nur Mr. Satterthwaite spürt intuitiv die mysteriöse Wirkung seines Freundes, indem er ihn als Katalysator beschreibt, der nicht aktiv das Geschehen voranbringt. Was Mr. Satterthwaite hier fühlt, ist genau die faszinierende und doppelsinnige Atmosphäre, die Agatha Christie in diesen  geheimnisvollen Erzählungen erschaffen hat.

 

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